… sag mir schnell, wer hat den besten Hundeverstand????
Kurze Frage – schnelle Antwort: Du, ich, er, sie, es – wir alle, aber ICH ganz besonders! Jawohl! Schließlich gehöre auch ich zu den Menschen, deren erste Überzeugungsvokabeln allzu gerne lauten: „Ich bin mit Hunden aufgewachsen; ich hatte schon immer Hunde; ich kann mir ein Leben ohne Hunde nicht vorstellen; man muss nur geduldig und konsequent sein, dann schafft man alles; ich würde meinen Hund NIE abgeben, mein Hund ist mein Partner, ich bremse auch für Tiere….“ Sie wissen schon, was ich meine…
Meine „Grundüberzeugung“ in dieser Hinsicht ist geblieben, nach und mit mehreren eigenen Hunden, einigen Jahren Tierschutzerfahrung und unzähligen Pflegehunden jeglicher Colour… aber eines habe ich nachhaltig gelernt: irgendwann tritt immer wieder ein Hund in mein Leben (in der Regel wieder so ein Würstchen, das die Erwartungen seiner Halter nicht bedingungslos erfüllt hat), an dem möchte ich fast verzweifeln. Alle Erfahrungen; alle erfolgreichen „Arbeitsanleitungen“ scheinen wirkungslos an diesen 4 Pfoten abzuprallen. O.K. – es gibt kleine Teilfortschritte, die ermutigen, aber ein Durchbruch lässt auf sich warten, zeigt noch nicht einmal ein Zipfelchen seines Erfolges. Nicht für mich (damit wir uns nicht falsch verstehen) – sondern für den Hund. So einer ist nämlich Räuber, ein ca. 10 Monate alter, tauber Border Collie Rüde.
Border Collies – fand ich schon immer klasse! Wollte eigentlich auch immer einen „haben“…. Dennoch, mein Respekt vor Hunden im allgemeinen und vor „Spezialrassen“ und ihren rassetypischen Anforderungen im besonderen hat mich Vorsicht gelehrt – Vorsicht vor allen Dingen vor mir selbst! Vor Jahren schwärmte ich für Herdenschutzhunde – ein Kangal oder Owtscharka mein ganz persönlicher Traumhund. Rasseportraits verschlungen, mit meinen Haltungsbedingungen und Erfahrungen verglichen… kein Problem, das bekomme ich schon hin! Gott sei Dank habe ich mir selber eine 1-jährige „Orientierungsphase“ auferlegt, in der ich mich in diversen HSH-Foren herumtrieb und fast jeden Tag die „day-to-day“-Geschichten aus dem Alltagsleben von HSH-Besitzern studierte. Die ersten Wochen bestärkten mich darin, an meinem Vorhaben festzuhalten – die geschilderten Probleme mit einem pöbelnden 65-kg-Kangal an der Leine, der seinen Artgenossen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zerlegen möchte… passiert mir bestimmt nicht, denn ICH würde meinen Hund selbstverständlich von Anfang richtig erziehen. Und auch das ausgeprägte Territorialverhalten, die Ernsthaftigkeit dieser Aufgabe ohne Wenn und Aber - na, wenn schon – auch das schaffe ich.
Je länger und intensiver ich allerdings diese Berichte las – die positiven mit sehr vielen „ja, aber…“ – Einschränkungen und insbesondere die „das-Kind-ist-schon-in-den-Brunnen-gefallen“-Tatsachenberichte – je deutlicher haben sie mich letztendlich am Ende eines Jahres erkennen lassen, dass ich nicht der „Typ Mensch“ bin, der das sehr eigenständige, autarke Wesen dieser Rasse wirklich schätzen würde; der beide Augen (zumindest aber eines…) fest zudrücken könnte, wenn etwas aus dem Ruder läuft, und/aber höchstwahrscheinlich mangels Alternativen (zig qm hoch und sicher eingezäuntes Grundstück oder einen anderen „Job“ in Form von Herdenschutz) die Probleme ggf. nicht so lösen könnte, dass der Hund, ich und mein Umfeld stress- und sorgenfrei leben könnten. Und ganz ehrlich… die Optik dieser Hunde hat mich einfach „viel zu sehr“ fasziniert, als dass meine Vernunft die Oberhand ohne Probe-Lesephase hätte gewinnen können! Das Kapitel HSH wurde geschlossen, für immer.
Seitdem versuche ich, jede Rasse nicht nur mit meinen Augen, meinen Erfahrungen zu sehen, sondern übe mich auch im Legen imaginärer Eier in Form von „was-wäre-wenn“ – Szenarien. Das hilft – so auch bei meinem derzeitigen Pflegehund – besagtem Räuber. Wie gesagt, Border Collies fand ich klasse! Die mittlerweile steigende Anzahl von BC, die ich persönlich kenne, könnte nicht weniger unterschiedlich sein. Dabei neige ich dazu, sie grundsätzlich in zwei Hauptkategorien einzusortieren (die aber auch für so manch anderen Hund unabhängig von Stammbaum und Herkunft herhalten müssen): Da ist zum einen ein wunderbarer „Familien-Border“ mit wenig bis keinem Hütetrieb, der mit seinem Herrchen auf dem Hundeplatz arbeitet – ein Inbegriff von Ruhe und Harmonie. Ruhe und Konzentration auf dem Platz – Ruhe und Konzentration neben dem Platz – Ruhe und Konzentration, während die anderen Hunde arbeiten und er zuschaut. Und die andere „Kategorie“? Nun ja, die gesamte Handlungsfrequenz sieht dann etwa so aus:
Man sieht sie noch nicht, aber hört sie überdeutlich. Das Auto (mit ihnen im Kennel) fährt auf dem Parkplatz der Hundeschule vor und das Gebell und Gejaule übertönt Strassen- und Motorgeräusche gleichermaßen. Die Autotür wird geöffnet und man kommt (selbst als abseits stehender, wartender Besucher dieser Hundeschule) in den vollen Genuss von Dezibelfrequenzen, die gesundheitsschädlich sind – den Besitzer scheint dies nicht aus der Ruhe zu bringen (entweder hat er bereits kapituliert, ist taub oder trägt Ohropax, die halten, was sie versprechen…). Die Hunde/der Hund zappelt in der Box und es beginnt ein kleiner Ringkampf, bis er endlich angeleint ist. Mit einem Satz schießt er aus dem Auto und zerrt seinen Halter gleich noch ein großes Stück des Weges. Alles kein Problem – Gegenwehr zwecklos – der Halter ist gut erzogen und… folgt.
Irgendwann hat dieser BC dann alles abgeschnuppert und markiert, was in einem Radius von 200 m erreichbar ist und zieht nun endlich in die richtige Richtung – zum Eingangsbereich der Hundeschule. Angesichts der a) wartenden Hunde und Halter, die sich bereits für den nun beginnenden Agility-Hundekurs angemeldet haben und b) der Hunde, die bereits auf dem rückwärtigen Teil der einzigen Hundeübungswiese arbeiten, „rastet“ der Border erneut aus: Dauer-Fiepen, gefolgt von Jaul- und energischen Belltiraden; Hochspringen am Halter und auch an fremden Personen (falls er „dran“ kommt). Reaktion des Halters in Richtung Hund: „…gleich, gleich… nun warte noch… gleich geht´s doch erst los“ und in Richtung der anderen Halter: „DAS ist ein Border Collie, die sind „so“ – da kann man eigentlich nichts machen, die wollen arbeiten und langweilen sich halt schnell!“. So, so…
Man stelle also fest: Border Collies sind keine Hunde, die man zur Ruhe und Konzentration erziehen kann. Eigentlich sind es wahrscheinlich überhaupt keine Hunde, weil… sie können auch nicht anständig und auf Kniehöhe an der lockeren Leine gehen, weil sie „…rassetypisch IMMER eine 12 h – Stellung einnehmen MÜSSEN und grundsätzlich IMMER im Bogen neben oder vor uns Menschen laufen müssen.“ Des weiteren entspricht es ihrem Verhalten, dass sie IMMER und ÜBERALL hinterher laufen und dabei sein müssen (auch an den besonders exklusiven Örtchen des Hauses), weil sie ja so menschenbezogen sind und ihre „Schäfchen“ im wahrsten Sinne des Wortes zusammenhalten müssen.
Ich bin kein Rassehund-Experte, auch kein Border Collie Fachmann. Aber für mich ist und bleibt jeder Hund in erster Linie zunächst einmal ein Hund - und als solcher "tickt" er auch! Und in zweiter Linie einer, der besondere Fähigkeiten, ein begnadetes Spezialistentum in sich vereinigt. Das es zu erkennen, zu fördern und… zu kontrollieren gilt.
Nun habe ich also ein solches „Prachtexemplar“ bei mir zu Hause, schaue in mein Spieglein und stelle fest: nun lebe Dein Credo erst mal selber und werde Deinen Ansprüchen gerecht! Gar nicht so einfach…
Mit unsicheren Hunden habe ich mehr Erfahrung als mir lieb ist, kenne die Gratwanderung zwischen Bindung/Vertrauen/Konfrontation und sehe mich in diesem Aspekt gut gerüstet. Mit „unruhigen“ und sehr aktiven Hunden habe ich schon sehr viel Lehrgeld bezahlt; aber auch hier bekomme ich keine Kopfschmerzen mehr und der Erfolg in Richtung ruhiger, konzentrierter, stressfreier Hund stellt sich in der Regel recht schnell ein.
ABER… einen Hund, der sich über geringe und sehr kontrollierte Bewegungsabläufe derart aufpusht, dass er „dicht“ macht und in dieser Phase auch durch nichts und gar nichts mehr beeinflussbar ist, stellt für mich zunächst einmal eine sehr (frustrierende) Herausforderung dar. Zu allererst deshalb, weil der Hund vor, während und nach diesen Phase hochgradig gestresst ist und das ist beileibe kein schöner Anblick!
Auch fehlen mir bei diesem Hund die regulären, fast immer zu erkennenden Übergangsphasen von „Entspannung“ über „Angespanntheit“ bis „Stress“ – es vollzieht sich ein scheinbar nahtloser Übergang von Entspannung direkt hin zum Stress - gerade noch ruhig und konzentriert eine Übung ausgeführt – im nächsten Moment abgeschaltet und unerreichbar. Aber… es liegt zweifelsohne an mir (an wem sonst?), dass ich bisher noch keinen Hund hatte, der so schnell so drastisch reagiert und wahrscheinlich erkenne ich deshalb (noch nicht) die feinen Veränderungen, die klitzekleinen Signale, die die Stressphase bereits einläuten und ankündigen.
Eine Arbeitskollegin sagte mir gestern: „lass ihn doch… dann dauert es eben ein paar Monate länger, das wird schon!“ Wirklich? Warum sollte sich etwas zum Besseren ändern – von alleine? Hätte dieser Hund (wie viele andere Hunde natürlich auch….) die Fähigkeit, sich selbst zu therapieren, warum hat er es nicht schon längst getan? Weil er Stress mag… weil er gerne „so“ sein möchte? NEIN – er kann einfach nicht anders… es fehlt ihm an vielem. Führt (Ver)Meidung zum Erfolg? Es wäre mir ein Leichtes, mit Räuber einsam, noch einsamer, die einsamsten reizärmsten Waldwege zu gehen. Hat er dann keinen/weniger Stress? Ich bin davon überzeugt, dass ein unsicherer Hund den Weg heraus aus Angst und Stress nicht alleine finden kann – er braucht einen Fels in der Brandung, jemanden, dem er in einem Maße vertraut, dass er sich durch dessen Gegenwart in jeder Situation sicher und ihr gewachsen fühlt. In einem funktionierenden Mensch-Hund-Team ist diese Rolle dem Menschen zugedacht.
Unser Leben „draußen“ lässt sich nur bedingt kontrollieren – ich kann einen Hund vor Übergriffen durch fremde Artgenossen schützen oder Nachbarn bitten, ihn nicht zu streicheln; ich kann aber keinem Auto(fahrer) verbieten, über DIESE Strasse zu fahren oder Passanten davon abhalten, mir entgegen zu laufen. Ich kann nicht kontrollieren, wer wann hupt oder den Rollokasten mit einem lauten Knall herunter sausen lässt. Ich kann Kinder nicht davon abhalten, auf dem Gehweg laut zu lachen oder (Wett)Lauf- und Fangspiele zu spielen. Ich kann fremde Artgenossen an der Leine auf der anderen Straßenseite nicht ins Cyberspace beamen und den Mond nicht anstrahlen, damit es nachts nicht so dunkel ist beim Spaziergang mit dem Hund. Aber ich kann – mit dem richtigen Maß an Methodik, Erfahrung, Timing, Geduld und Konsequenz daran arbeiten, mir das bedingungslose Vertrauen eines Hundes zu erarbeiten.
Nicht der letztendliche Erfolg ist zweifelhaft, sondern lediglich das Durchhaltevermögen von uns Menschen, MEIN Durchhaltevermögen, jeden Tag, jede Stunde auf´s Neue diesem Ziel treu zu bleiben, mich nicht (in Momenten der Enttäuschung, Erschöpfung und Frustration) dazu verleiten zu lassen…
… weniger für den Hund zu wollen als ein stressfreies Leben in jeder Situation;
… einen anderen Umstand (z.B. die Taubheit von Räuber) als bequemes Alibi zu nutzen und von vorne herein Ziele auszuschließen, die grundsätzlich erreichbar sind;
… Situationen, die ihn (noch) in Stress verfallen lassen, grundsätzlich zu meiden und zu glauben, dass damit sein Leben in Ordnung wäre;
… daran zu zweifeln, dass JEDER Hund – bekommt er nur die Chance und die Möglichkeit, dies lernen zu dürfen – auch ein „ruhiger und konzentrierter“ Hund sein kann, der an lockerer Leine freudig und entspannt neben seinem Halter läuft, mit ihm arbeiten möchte, ihm vertraut.
Ob es mir bei Räuber gelingt? Keine Ahnung… zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen manchmal Welten, aber versuchen werde ich es – ohne Wenn und Aber. Räuber ist ein fantastischer Hund und in den Situationen, die er inzwischen stressfrei meistern kann, sehe ich einen Hund, den ich gerne immer sehen möchte: freudig, erwartungsvoll, neugierig, entspannt… Dafür lohnt es sich allemal, dem inneren Schweinehund, den eigenen Zweifeln, den „guten“ Ratschlägen und, allen voran, der eigenen Bequemlichkeit Paroli zu bieten. Nicht in Zufriedenheit und Selbstgefälligkeit zu verfallen in Betrachtung dessen, was schon erreicht ist, sondern zielorientiert und in einem angemessenen Tempo weiter zu arbeiten, bis alle „Baustellen“ beseitigt sind und ein Hund sein Leben in jeder Alltagssituation genießen kann: kontrolliert, ohne Stress und ohne Sicherheitsrisiko für sich und andere.
In den letzten Tagen habe ich mich selbst oft "Räuber-like" gefühlt... gestresst von den Situationen, die oft einen anderen Ausgang nahmen als geplant und erhofft; frustriert, weil der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sichtbar war, überwältigt von den vielen "Verhaltens-Baustellen", denen ich mich eigentlich gleichzeitig widmen müßte. Es wäre so viel einfacher gewesen, Räuber nicht zu übernehmen - und hätte ich gewusst, was auf mich zukommt - wer weiß...? Ein Zurück kommt für mich/uns nicht in Frage... aber ein noch motivierteres "Packen wir´s an!" Spieglein, Spieglein an der Wand - wir werden lernen, wir halten Stand...
Und dann fehlen nur noch die „richtigen“ Menschen mit der „richtigen“ Einstellung, die mit Herz und Verstand bedingungslos JA sagen zu Räuber… und der hübsche Kerl endlich sein eigenes Zuhause findet. Diesmal für immer… bitte!
Martina Wald
www.angsthunde-intensivtraining.de